Eine Prognose des Historikers Fukuyama zum «Ende der Geschichte» hat sich als grundlegend falsch erwiesen. Freiheit ohne Macht erstirbt infolge des Machtanspruchs anderer.
Gastkommentar von Konrad Hummler
Die wohl gewagteste Äusserung, die ein Geschichtswissenschafter überhaupt von sich geben kann, ist der Abschied von dem, was sein Studienobjekt ist: der Lauf der Zeit auf diesem Erdball mit all seinen möglichen und unmöglichen Implikationen. Der dieses Ende der Geschichte verkündete, war der amerikanische Historiker Francis Fukuyama. Mit der Überwindung des Kommunismus im Ostblock im Jahre 1989 habe dieWelt – so seine These – jenen Zustand erreicht, in welchem Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die kapitalistische Marktwirtschaft keiner denkbaren weiteren Herausforderung mehr gegenüberstehen würden. Die Vorteile dieser Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens seien dermassen unanfechtbar, dass alternative Gesellschaftsentwürfe infolge genereller Unterlegenheit fortlaufend implodieren würden. Francis Fukuyama deklarierte mit anderen Worten so etwas wie einen hegelianischen Nullpunkt, nach welchem es infolge sich sachlogisch ergebender und empirisch erwiesener Irrelevanz des dialektischen Prinzips keine weitere Entwicklung mehr brauche und deshalb auch nicht mehr geben werde. Eine sehr gewagte Prognose des Historikers Fukuyama, die sich seither als grundlegend falsch erwiesen hat. Zwar schienen in den neunziger Jahren und auch noch zu Beginn dieses Jahrtausends die Vereinigten Staaten von Amerika eine völlig unanfechtbare Stellung als einzige wirklich mächtige Vertreter ebendieser drei Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft erlangt zu haben. Die in der Zwischenzeit als notwendig betrachteten Interventionen rund um den Globus schienen lediglich noch Bestätigung, aber gewiss nicht grundlegende Infragestellung der Prinzipien zu sein: Afghanistan, der Irak, Libyen, Ägypten als Regionen, wo die Weltgeschichte noch komplettiert zu werden hatte, aber nicht im Sinne einer umwälzenden Weiterentwicklung einmal mehr und grundlegend verändert werden musste. Ausnahmen als Bestätigung: Wer sich in den Grundzügen abendländischer Denkmuster ein wenig auskennt, der erkennt unschwer im «Ende der Geschichte» die der endzeitlichen Erwartung entspringende Prädestinationslehre des dies- und jenseits des Atlantiks praktizierten Calvinismus. Der Arabische Frühling erschien unter der Annahme der Richtigkeit der These des «Endes der Geschichte » sozusagen als Bestätigung des unmittelbar bevorstehenden Heils, und viele zeitgenössische Kommentatoren sagten auch der Volksrepublik China eine baldige Hinwendung zu mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratie voraus, nachdem der Kapitalismus offenkundig sein Werk schon zu tun begonnen hatte. Heilserwartungen verführen zu Unvorsichtigkeit und zu zu viel Selbstsicherheit in Bezug auf die eigene Positionierung. Ich gehe davon aus, dass auf manches Engagement des Westens und namentlich der immer die grösste Last davon tragenden amerikanischen Nation ohne eine solche Heilserwartung verzichtet worden wäre oder dass zumindest die Erwartungen an die Interventionen weniger hochgeschraubt worden wären. Das Heil ist ja offenkundig nicht eingetreten. Die Welt ist heute mehr denn je ein Flickenteppich von nicht zu überbietender Unüberschaubarkeit. Von einem Siegeszug von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und marktwirtschaftlichem Kapitalismus kann keine Rede sein, im Gegenteil. In einem Grundsatzartikel hat der amerikanische Soziologe Mark Lilla vor Jahresfrist der an Einfachheit nicht mehr zu überbietendenWeltsicht von Francis Fukuyama den Begriff der «Unlesbarkeit» der Weltenläufe gegenübergesetzt. Das pure Gegenteil also vom «Ende der Geschichte», nämlich die Erkenntnis, dass wir das, was rund um unseren Globus tagtäglich vor sich geht, nicht mehr zu entziffern in der Lage sind. Die Gleichzeitigkeit von Rigorismus, ja von mit Waffengewalt praktiziertem Fundamentalismus, mit einer völlig stupenden Multioptionalität der Lebensweise wirft ebenso Fragen auf wie das Miteinander freiheitlicher Gesellschaftsentwürfe mit theokratischen und staatskapitalistischen Systemen. Lilla beklagt die Denkfaulheit westlicher Intellektueller nach 1989, also ab jenem Zeitpunkt, da Fukuyama das Ende der Geschichte vorausgesagt hatte. Lilla meint, durch den Umstand, dass die Idee der Freiheit scheinbar nicht mehr dem Wettbewerb ausgesetzt gewesen sei, hätten sich die westlichen Intellektuellen auf die Betrachtung von Nebensächlichkeiten zurückgezogen. Nun sei man nicht vorbereitet, in der – entgegen der Voraussage dennoch eingetretenen – Fortsetzung der Geschichte noch zu bestehen. Ich befürchte, dass die Sachlage noch ernster ist, nämlich in dem Sinne, dass nicht nur Denkfaulheit der Intellektuellen das Problem ist, sondern vielmehr die grundsätzliche Infragestellung der Idee der Freiheit durch das Prinzip der Macht. Wenn die Geschichte wirklich ein Ende gefunden hätte, dann hätte sich auch die Machtfrage nicht mehr gestellt. Denn dann hätte es nur noch einen Primat gegeben, dem sich alles Übrige hätte unterordnen müssen: den Primat des einen schönen blauen Planeten, dessen Bild uns die vom Mond zurückkehrenden Astronauten vermittelt hatten. Es ist so: Der Westen und mithin in erster Linie die USA sahen sich (und sehen sich auch heute noch) als Treuhänder dieses einen übergeordneten Interesses zugunsten des einen schönen blauen Planeten. Der blaue Planet und dessen möglichst intaktes Weiterbestehen wurden zu einer Pseudoreligion unserer Zeit. Ihr Rom ist nicht in Italien, sondern liegt eher in den USA, das «Ende der Geschichte » begründete die unmittelbare Heilserwartung. Die G-20 war das Kardinalskollegium der Pseudoreligion; seit dem Abfallen Ostroms durch die Annektierung der Halbinsel Krim durch den russischen Präsidenten Putin ist dessen Bedeutung allerdings geschwunden. Dennoch: Was alles an Interventionen seit 1989 weltweit losgetreten wurde, was alles an Sanktionen gegenüber allen möglichen unbotmässigen Nationen erlassen wurde, was alles an Daten über nunmehr sozusagen jeden Erdenbürger gesammelt wurde – alles rechtfertigte sich aus der treuhänderischen Wahrnehmung des übergeordneten Interesses für den blauen Planeten, und diese Wahrnehmung fand ihre praktische Handhabung durch den Einsatz von Macht; militärischer, geheimdienstlicher, wirtschaftspolitischer, justiziell-polizeilicher, gesellschaftlich-struktureller Macht. Weil die Geschichte angeblich zu ihrem Ende gekommen war, geschah Machtanwendung nicht mehr mit der Legitimation des Ausnahmezustands, sondern wurde sozusagen zum Normalfall. Machtanwendung als Normalfall in der treuhänderischenWahrnehmung des übergeordneten Interesses für den blauen Planeten: Die Weltöffentlichkeit hat sich an sie gewöhnt. Kümmert es sie beispielsweise unter dem Titel der Legitimation wirklich, wenn irgendwo im Mittleren Osten ein angeblicher Terrorist von einer ferngesteuerten Drohne erledigt wird? Bei der Tötung von Usama bin Ladin war noch der völkerrechtliche Ausnahmefall des «Krieges gegen den Terrorismus» angerufen worden. Seither geschehen im Monatsrhythmus analoge Aktionen, die sogar kaum mehr denWeg in die Medien finden. Entsprechend haben wir uns auch an die umfassende geheimdienstliche Datenerhebung gewöhnt. Aus dem NSA-Skandal ist längst eine Standard Operating Procedure geworden. Wohlverstanden: Ich stelle die Notwendigkeit, dass sich eine Nation, und namentlich eine so grosse und wichtige Nation wie die USA, aller möglichen Mittel zurWahrnehmung ihres eigenen Interesses bediene, überhaupt nicht infrage. So erachte ich es als selbstverständlich, dass ein Geheimdienst die Aufgabe hat, den Telefonverkehr anderer Regierungen abzuhören – aber eben: zur Wahrnehmung des eigenen Interesses und nicht im Sinne des Normalfalls in der treuhänderischen Wahrnehmung eines pseudoreligiös festgelegten übergeordneten Interesses. Das ist der entscheidende Unterschied. – Freiheit und Macht sind zwei
axiomatisch entgegengesetzte Prinzipien. Freiheit definiert sich durch Abwesenheit von Macht. Freiheit
bedeutet den Austausch zwischen Individuen oder Gruppen von Individuen unter dem Titel der
Freiwilligkeit. Macht, wenn sie sich uneingeschränkt zur Wahrnehmung eines angeblich vorhandenen übergeordneten Interesses entfalten kann, wird zur Bedrohung der Freiheit und wendet sich am Ende sogar gegen den eigenen Bürger. Die Debatten nach Auffliegen der NSA-Datenakkumulation haben allerdings gezeigt, dass die bürgerrechtlichen Anliegen bis auf weiteres einen schwachen Rückhalt in der Öffentlichkeit haben. Das Sicherheitsargument hat Oberwasser. Doch das wird sich ändern. Denn mit dem sich abzeichnenden Ende des «Endes der Geschichte» wird das pseudoreligiös begründete «übergeordnete» Interesse des blauen Planeten nicht mehr anzurufen sein. Somit wird auch niemand mehr treuhänderisch dieses Interesse wahrnehmen können oder müssen. Es wird nur noch (und wieder – das macht ja dann die Fortsetzung der Geschichte aus) eigene Interessen von Nationen und Machtblöcken geben. Interessen werden aufeinanderprallen, es wird auch wieder zu echtenAuseinandersetzungen kommen. Im Zuge dieser Entwicklung wird das Prinzip der Freiheit wieder herausgefordert sein, wird im Wettbewerb der Ideen stehen, und jede Machtanwendung wird sich, als Eingriff in das Prinzip Freiheit, zu legitimieren haben.Wir müssen uns mental auf diesen neuen Zustand der Welt vorbereiten. Wir, der freie Westen, werden uns gegenüber den sich abzeichnenden theokratischen und staatskapitalistisch-konfuzianischen Gesellschaftsentwürfen rechtfertigen müssen. Wir werden wieder wissen müssen, was uns die Freiheit wert ist, und zwar nicht im utilitaristischen Sinne, einfach weil Freiheit, Marktwirtschaft und Kapitalismus angeblich die besten volkswirtschaftlichen Zahlen generieren. Das ist ein Freiheitsverständnis auf dem Niveau eines Investmentbankers an der Wall Street. Nein, es geht um Freiheit im prinzipiellen Sinne Kants des «Begriffs an sich».Wir müssen künftig wieder in der Lage sein, Machtanwendung gegenüber dem Prinzip der Freiheit abzuwägen, zu relativieren, und wir werden auch unsere Institutionen, nicht zuletzt die datensammelnden Kolosse, die Medien und die Geheimdienste, in diesen Dipol von Freiheit und Macht einzuordnen haben. Es könnte sein, dass alternative Gesellschaftsentwürfe wie z. B. der staatskapitalistisch-konfuzianische, vielleicht sogar der theokratisch-islamische, in verschiedener Hinsicht unsere westlichen Volkswirtschaften zu überflügeln beginnen. Punkto BIPWachstum ist das mit China längst der Fall. China wird aber nicht beim BIP-Wachstum stehenbleiben. Es wird auch militärisch wachsen, es wird eine Weltwährung auf die Beine stellen. Es könnte sein, dass ein Zeitgeist aufkommt, der unsere Vorstellung von Freiheit als veraltet und den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt als hemmend bezeichnen wird. Dann reichen utilitaristische Freiheitsvorstellungen nicht mehr aus, dann hilft nur noch das Prinzip. Das Prinzip nämlich, dass wir mit dem Apostel Paulus daran glauben, dass der Mensch zur Freiheit berufen ist (Gal. 5, 13), weil er nur so seine wirkliche Würde und Bestimmung erlangen kann. Den Vereinigten Staaten von Amerika ist es zuvorderst auferlegt, den Dipol von Freiheit und Macht sowohl intellektuell als auch praktisch zu bewirtschaften. Freiheit ohne Macht erstirbt infolge des Machtanspruchs anderer. Das war im Zweiten Weltkrieg so, und so wird es auch bleiben, weil die Geschichte nicht am Ende ist. Freiheit und Macht, so widersprüchlich sie einander gegenüberstehen, bedingen sich gleichzeitig: Freiheit überlebt nicht ohne Macht. Macht, die nicht durch Freiheit laufend in sich beschränkt und durch Freiheit herausgefordert wird, verliert ihre Moralität und damit auch ihre Legitimation. Der Mensch sei zur Freiheit berufen, sagt Paulus. Unsere Aufgabe ist es, um diesen moralischen Anspruch immer wieder zu ringen. Es gibt nichts anderes, als zurück zu denWurzeln zu gehen, zurück zu den grossen Denkern der Freiheit wie Immanuel Kant, Karl Popper oder Friedrich August von Hayek! Wir brauchen die Gedankenführung dieser grossen Vordenker, um in der Fortsetzung der Geschichte zu bestehen.
…………………………………………………………………………………………..
Konrad Hummler ist Gründer der M1 AG, Think-Tank für strategische Zeitfragen; der frühere Privatbankier war Verwaltungsrat und von 2011 bis 2013 Verwaltungsratspräsident der AG für die Neue Zürcher Zeitung. Der Text ist die gekürzte Fassung eines Referats, das der Autor kürzlich vor Vertretern der Manhattan Republican Party in New York gehalten hat.
NZZ vom 7.5.2015_Freiheit und Macht