Von Konrad Hummler und Tito Tettamanti
Mit erheblichem publizistischen Aufwand hat der Think Tank Avenir Suisse kürzlich ein „Weissbuch Schweiz. Sechs Skizzen der Zukunft“ veröffentlicht. Das Buch ist gut leserlich und sehr gut aufgemacht. Es fordert die Leserinnen und Leser zu einer europapolitischen Debatte „ohne Denkverbote“ auf. Das ist begrüssenswert. Beginnen wir damit.
Eindeutiger Wunsch
Sechs verschiedene Szenarien: Das sieht nach Unvoreingenommenheit und fairem Abwägen von Vor- und Nachteilen unterschiedlicher Wahlmöglichkeiten unseres Landes aus. Doch die Methode des Weissbuchs ist so angelegt, dass jene zwei Zukunftsszenarien am besten abschneiden, die eine vollständige Integration beziehungsweise eine sehr weitgehende Anbindung an die Europäische Union beinhalten. Hintergrund für diese faktische Beitrittsempfehlung bildet erstens die These, unser Land sei reformunfähig geworden und brauche den äusseren Anstoss, um seine Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen. Diese Sichtweise begünstigt a priori die übernationale Organisation mit Durchsetzungsmacht gegenüber den Beharrungskräften im Innern. Zweitens vermutet Avenir Suisse, eine auf den Weltmarkt ausgerichtete Wirtschaft benötige sowohl einen genügend breitabgestützten Heimmarkt als auch eine adäquate politische Machtbasis; der Wert von Agilität wird dagegen geringgeschätzt. Drittens sind die Verfasser der Ansicht, Mitgliedschaft oder enge Adhäsion brächten punkto Gestaltungsmöglichkeiten eher Vor- als Nachteile. Zur Verortung ihrer Szenarien benutzen sie die Gegensatzpaare „Korporatismus versus offene Märkte“ und „Integration versus Autonomie“. Die beiden Wunschszenarien – „Europäische Normalität“ und „Tragfähige Partnerschaft“ – landen im rechten oberen Quadranten und versprechen mithin grosse Offenheit bei gleichzeitig weitgehendem Verzicht auf Autonomie. Kurz gefasst: je integrierter (in die EU), desto besser würde es uns gemäss Avenir Suisse gehen. Als Massstab dient der voraussichtliche Grad allgemeiner Wohlfahrt, gemessen an einem Bündel performanceorientierter Faktoren. Im extremsten Szenario würde dafür sogar die eigene Währung geopfert. Das Weissbuch soll gemäss Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder die Europa-Debatte in der Schweiz „enttabuisieren“. Der Vollbeitritt ist dabei aber nicht nur Option, sondern offenkundiger Wunsch.
Gegen eine Debatte – auch über die Extremvariante des Vollbeitritts – ist nichts einzuwenden. Wir sind uns jedoch eines diesbezüglichen Tabus nicht bewusst. Im Gegenteil verspüren wir seit je mindestens implizit eine hohe Affinität gewisser Kreise gegenüber Brüssel, vor allem unter Politikern, in der Verwaltung und in Teilen der Wirtschaft. Das vermeintliche Tabu des Vollbeitritts ist dort eher ein der gegenwärtigen innenpolitischen Wetterlage geschuldeter Pragmatismus. Mittelfristig möchte man dagegen in Bern und anderswo endlich der „europäischen Normalität“ (Avenir Suisse) entsprechen. Aber wenn schon Tabus gebrochen werden sollen, dann bitte auch jener Automatismus, der jegliche EU-Skepsis unweigerlich in die Schmuddelecke der „Nationalkonservativen“ und des „Populismus“ verfrachtet. Inklusion statt Ausgrenzung auch gegenläufiger Ansichten müsste das Ziel einer ehrlich geführten Debatte unter mündigen Bürgern sein.
Welche EU?
Obschon im „Weissbuch“ in groben Zügen verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten der EU zur Sprache kommen, beziehen sich die sechs Verhaltensszenarios der Schweiz auf ein implizit konstantes und insgesamt positives Bild der EU. Avenir Suisse hat sich vor dem Weissbuch mehrfach, wenn auch nicht immer konsistent zur Europafrage geäussert, zuletzt 2015 in der Schrift «Bilateralismus – was sonst? Seither hat sich die Situation der EU stark verändert, aber, wie wir meinen, nicht zum Guten hin. Stichwortartig erwähnt seien das wachsende Demokratiedefizit, die ungelöste Staatsschuldenkrise und die Migrationsproblematik, die extremen Wohlstandsdifferenzen in der EU, das Damoklesschwert der Targetsalden, der gequälte Umgang mit dem Brexit, die französischen Vorschläge zur Vertiefung der EU mit erheblichen Folgekosten usw. Schliesslich hat sich auch die weltpolitische Grosswetterlage deutlich verändert: Vom Trittbrettfahrerkontinent Europa werden von Seiten der USA plötzlich Leistungen verlangt, derweil an der Ost-und Südostgrenze erfolgreiche Potentaten für Ungemach sorgen.
Ernstzunehmende Szenarientechnik müsste im Sinne einer Matrix beide Seiten dynamisch halten. Von der Entwicklung der EU nur das Beste anzunehmen, ist nicht seriös. Vielmehr muss man fragen: In welche Art von EU hinein würden bzw. sollten wir uns integrieren? Ist es wirklich so unklug, eine genügende Ferne zu Brüssel aufrechtzuerhalten? Die Illusion, wir könnten in irgendeiner Weise die Entwicklungen beeinflussen, sollten wir realistischerweise gleich aufgeben. Dass der Souveränitätsverlust durch die Mitwirkungsmöglichkeiten kompensiert werden könnte, erscheint angesichts der faktischen Gewichtsverhältnisse in der EU reichlich naiv.
Stimmen die Zielgrössen?
Zur Kritik am statischen und damit zu positiven Europabild kommen methodische Vorbehalte. Zur Vorbereitung dieses Aufsatzes legten wir das Koordinatenkreuz „Korporatismus – offene Märkte“ und „Autonomie – Integration“ einer Gruppe junger Ökonomen vor. Diese quittierten lachend: „Das weiss jeder Student spätestens bei der Bachelorarbeit – man hat die Koordinaten so zu wählen, dass das Wunschszenario rechts oben landet!“ Wir haben den Eindruck, dass sich formallogische Fragezeichen sowohl bei der Paarung der Gegensätze ergeben als auch bei der Wahl des Koordinatensystems schlechthin.
Hätten wir ein „Weissbuch“ schreiben müssen, wäre unsere Wahl eher auf die Gegensatzpaare „Erhalt schweizerischer Substanz versus Verlust derselben“ sowie „Handlungsfreiheit versus Drittbestimmung“ gefallen. Auch diese Paarungen wären natürlich diskutabel. Aber eines ist gewiss: die sechs Szenarien des Weissbuchs, so sie überhaupt sinnvoll sind, wären in anderen Quadranten gelandet. Dabei geht es nicht um eine intellektuelle Turnübung, im Gegenteil: Es gibt sie eben, die schweizerische Substanz, und sie unterscheidet sich von der historisch gesehen weitgehend unerprobten Substanz der EU dermassen, dass eine weitergehende Integration unweigerlich die Selbstaufgabe des typisch Schweizerischen bedeutete. Wir sind ein „Bottom up-Land“, der Rest von Europa ist mehr oder minder obrigkeitlicher Natur. „Nationalstaat“ ist für die Schweiz als Begriff nicht wirklich treffend; vielmehr handelt es sich um eine einzigartige, subsidiär gewollte Organisationsform, in der sich viele Aufgaben der Gesellschafts-, Sozial- und Wirtschaftspolitik offenkundig gut lösen lassen. Die Schweiz ermöglicht seit je Bürgernähe, Kosteneffizienz und kulturelle Vielfalt. Voraussetzung dafür bildet eine genügende Unterscheidung und Abgrenzung: Freiheitlichkeit, Rechtsstaatlichkeit, direkte Demokratie und Föderalismus sind unverzichtbare Qualitäten unseres Landes und zwingen zu hinreichender Souveränität, auch in einer komplexen und vernetzten Welt. Wir sind dezidiert der Ansicht, dass es genau diese Qualitäten sind, also im weitesten Sinn der schweizerische Kapitalstock und unsere Fähigkeit, ihn zu bewahren und zu äufnen, die uns global gesehen dermassen attraktiv machen.
Als Unternehmer haben wir mehrfach die Erfahrung gemacht, dass eine Managerclique eine Firma nach und nach ihrer eigentlichen Substanz beraubte, weil sie vordergründigen, performanceorientierten Indikatoren nachrannte. Meistens gelangte man dann an einen Punkt, an dem die Verhältnisse kippten, das beste Personal die Unternehmung fluchtartig verliess, Reputation und Marke Schaden litten und der wirtschaftliche Misserfolg nicht ausblieb. Ein Zurück gibt es in solchen Fällen kaum oder nur zu einem sehr hohen Preis. Performance oder Substanz: Dieser Debatte kann man sich nicht entziehen. Wenn sich Europa anschickt, multipolar zu werden, wenn in einzelnen Ländern politisch Unerfahrene und Unwägbare an die Macht gelangen, wenn im fernen Osten ein neuer Hegemon seine Ansprüche geltend macht – ist es dann nicht töricht, auf ein vielleicht zerfallendes, mit Sicherheit aber um seine innere Verfassung schmerzhaft ringendes Gebilde zu setzen?
Vorbereitungshandlung?
Man kann sich fragen, was die Verantwortlichen von Avenir Suisse – neben persönlichen Vorlieben – dazu getrieben hat, ausgerechnet jetzt eine solche europapolitische Avance zu lancieren. Die Vermutung liegt nahe, man wolle damit taktisch den Weg für ein vielleicht dann doch nicht so optimales Rahmenabkommen zwischen der EU und der Schweiz ebnen. „Beitritt nein, Rahmenabkommen ja“ entspräche dem machiavellistisch erzielten Kompromiss zwischen einem offenkundigen Nicht-Ziel und einer angeblich akzeptablen Lösung. Wir empfehlen daher auch für das in Bälde zu erwartende Verhandlungsresultat, ganz im Sinne des «Weissbuchs» auf Denkverbote zu verzichten, die objektiv feststellbaren Vor- und Nachteile sorgfältig gegeneinander abzuwägen und mögliche ungünstige Entwicklungen der EU in die Überlegungen einzuschliessen. An sich sind die roten Linien für ein Rahmenabkommen klar: Aufgabe der Guillotineklausel für die bisherigen Vertragsbestandteile, Verankerung eines echten (!) Schiedsgerichts ohne Hoheit des Europäischen Gerichtshofs über unser Land, materielle Beschränkung auf den bisherigen bilateralen Vertragsbestand. Was darüber hinausgeht hat das Potential zur Verwässerung unserer Substanz und zur Verminderung unserer Handlungsfreiheit.
Konrad Hummler, *1953, ist Partner der M1AG, eines Think Tanks für strategische Zeitfragen.
Tito Tettamanti, *1930, ist Rechtsanwalt und Unternehmer
Erschienen in der NZZ, 3.7.2018, “Die Schweiz und die EU”