Seit Kindheitstagen begleitet mich die Musik des Johann Sebastian Bach durchs Leben.
Von Konrad Hummler
Wenn Träume wahr werden, ist Vorsicht geboten. Denn der so entstandenen Wirklichkeit haftet das Visionäre, Kaum-Mögliche, Eigentlich-Undenkbare, ja Frivole noch immer an. Es steht quer in der Landschaft der Normalität. Aber vor allem: Träume sind zunächst eine individuelle Angelegenheit. Die Transformation zu einer von einem Kollektiv getragenen Bewegung ist jener Prozess, der aus einem Spinner einen Unternehmer macht. Dessen Einsamkeit bleibt dennoch sein grösstes Problem. Der geringste Anflug von Überheblichkeit ist ebenso schädlich wie Gefühle des Selbstzweifels zur Unzeit. Traum und Tragik sind in Wahrheit Geschwister.
Das gesamte Vokalwerk von Johann Sebastian Bach aufzuführen und in Ton und Bild gültig aufzuzeichnen, auf dass eines der wichtigsten abendländischen Vermächtnisse der kommenden Generation weitergegeben werden kann: Das war einer meiner Lebenswünsche. Zart verwurzelt in meinen Kindheitsjahren, als wir Knabensopräne das Duett „Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten“ (BWV 78) von der Kirchenempore zwitscherten, verstärkt durch einige spielbare Ausschnitte aus den Suiten für Violine solo und das E-Dur-Konzert, definitiv verankert durch die mehrfach mitgesungene Matthäuspassion, verselbständigte sich diese Vision irgendwann und bekam durchaus bedrohliche Züge. Nämlich in der Vorstellung, nicht richtig gelebt zu haben, falls „es“ nicht gelänge.
Dass es gelingt, verdanke ich dreierlei Umständen. Erstens, indem ich mitgestaltendes Element einer völlig anderen, wirtschaftlichen Vision wurde, die in die Wirklichkeit umgesetzt wurde. Dass die von uns als ökonomisches Gesamtkunstwerk verstandene Traumbank dann an der Wirklichkeit einer üblen internationalen Auseinandersetzung zerschellte, nährte meine Einsicht, dass mit wahr werdenden Träumen Vorsicht geboten ist. Wer etwas wagt, macht sich angreifbar. Wer jedoch machtlos, klein und allein ist, muss Angreifbarkeit um jeden Preis vermeiden. Dennoch: Der geplatzte Unternehmertraum liess wenigstens genügend Substrat als Basis für den anderen, den kulturellen Traum übrig.
Der zweite Umstand liegt im Zusammentreffen mit Rudolf Lutz. Der Organist, Pianist, Dirigent, Improvisator, Komponist, Didaktiker und Freund vereint genau das, was es zur Umsetzung einer so gigantischen Aufgabe braucht: beharrlichen Dauerimpetus auf höchstem Niveau. Drittes, unverzichtbares Element: Eine familiäre Umgebung, die mich machen lässt. Und nicht nur das: Sie empfindet den notwendigen Kapitaleinsatz nicht als Geldvernichtung, sondern, wie ich und viele andere, als Aufbau eines realen Aktivums, das jeden Gedanken an Verschleuderung einer finanziellen Anwartschaft vergessen lässt.
So gehe ich denn seit nunmehr zwölf Jahren durch mein Leben mit monatlich einer neuen Bachkantate. Einem einzigen Zwanzig- bis Vierzig-Minuten-Stück, das zweifach aufgeführt wird. Das heisst, dieselbe Musik erklingt jeweils doppelt, unterbrochen von einer „Reflexion“, einem Wortvortrag eines interessanten Zeitgenossen. Wir Veranstalter erwarten von diesem eine authentische Auseinandersetzung mit Kantatentext und Musik. Unvergessen sind die Auftritte mittlerweile verstorbener Grössen wie Hugo Loetscher oder Urs Widmer; im Gedächtnis haften bleiben aber auch die Reflexionen einer Sibylle Lewitscharoff, eines Rüdiger Safranski, eines Adolf Muschg oder eines Thomas Held, der eine halbe musikologische Bibliothek verinnerlicht hatte, um seiner Aufgabe gerecht zu werden.
Die zweifache Aufführung desselben kurzen Werks hat den Vorteil, dass Musiker wie Zuhörer die komplexe Textur beim ersten Durchgang ohne die Panik des „Schon vorbei“ geniessen können, beim zweiten Mal dafür ein „déjà entendu“ erleben. Für uns Produzenten von Live-Aufnahmen liefert sie zusätzliches Material für den Schnitt durch die Ton- und Bildregie und reduziert die notwendigen Nach-Aufnahmen auf ein für Dirigent und Künstler erträgliches Mass. Der dem eigentlichen Konzert vorangehende „Workshop“, ein pädagogisches Feuerwerk unseres Dirigenten Rudolf Lutz, vom Theologen Karl Graf sekundiert, versetzt den regelmässigen Besucher in die Lage, auf angenehm unterhaltsame Weise inkrementell enorm viel über Bach, seine Musik, sein Denken, sein Fühlen zu erfahren. Das prägt.
Dass Bachs Kompositionen zehn und mehr Jahre interessant bleiben würden, wusste ich zuvor. Sonst hätte ich das Riesenprojekt 2006 nie gestartet. Meine Hinwendung weg von der anfänglichen Skepsis des Aufgeklärten zu den barocken Texten hätte ich jedoch so nicht erwartet. Nicht alle, aber die meisten Kantaten sind von ausdrucksstarker, farbenreicher Dichtung geprägt. Gewiss, die Vergänglichkeit spielt eine herausragende Rolle. „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“ (BWV 125) – Martin Meyer hielt darüber eine meisterliche Reflexion – oder „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ (BWV 26) oder „Komm, du süsse Todesstunde“ (BWV 161) befremden in unserer vordergründig so lebensfrohen Zeit. Dennoch berühren sie, denn unser derzeitiger Lebensmut hat ja auch einen Preis: den Preis der oberflächlichen Frivolität dem gegenüber dem, wogegen Bach sein „Donnerwort“ hinschleudert. Die Aufklärung hat viele Knoten der von Konventionen getragenen Gläubigkeiten durchgehauen oder wenigstens gelockert, aber sie beliess die grossen Fragen unserer Existenz ungelöst: Wo komme ich her, wohin gehe ich, was hat es mit dem Bösen auf sich, was bedeutet „gut“, woher kommt Trost? Und ja, es trifft zu, wir werden laufend ermahnt. „Leichtgesinnte Flattergeister“ (BWV 181) seien wir, „es reisse uns ein schrecklich Ende“ (BWV 90), und verzweifelt ruft der Dichter: „Tue Rechnung, Donnerwort!“ (BWV 168).
Das mag für uns Rechtschaffene schon ein wenig übertrieben sein. Doch: ist solcherlei Ermahnung zu besserer Lebensführung wirklich unzutreffender als jene eines weltanschaulich völlig unverankerten Moralismus, der in Medien und Politik allenthalben anzutreffen ist? Was, wenn die menschliche Hybris einmal implodiert? Und ja, wir werden von Bachs Musik und den barocken Texten getröstet. „Ich steh mit einem Fuss im Grabe“ (BWV 156) half uns mit ihrer Eingangssinfonia über manche dunkle Stunde hinweg, und mit der Kantate „Schmücke dich, o liebe Seele“ (BWV 180) wurden mir die Augen für die Gnade eines zwar vielleicht halbvollen, aber doch reichlich grossen Glases geöffnet.
Bachs Musik ohne hörbaren Bezug zum Text ist unzureichend, denn der Thomaskantor nahm den Inhalt extrem ernst und setzte jede Note bewusst, wählte jeden Rhythmus präzis und gab dem Affekt eine eindeutige Schärfe. Wir lassen deshalb die Orchestermusiker ausgiebig mit den Solisten zusammen proben, auf dass auch sie das Inhaltliche verinnerlichen. Sie sind für uns als Instrumentalisten gleichwertige Verkünder des Wortes; ihre Botschaft muss für die Zuhörer ebenso nachvollziehbar sein wie jene der Gesangssolisten und des Chores. So legen wir bei den Rezitativen grössten Wert auf Farbe und Spannung im Erzählvorgang und lassen den Generalbass durchaus frei innerhalb der vorgegebenen Harmonik improvisieren. So resultieren barocke Gemälde, die selbst bei fremdsprachigem Publikum mit Begeisterung aufgenommen werden.
Darin liegt im übrigen das Überraschendste des wahr gewordenen Traums: in der überwältigenden Rezeption unserer Trogener Produktion in den Social Media. Wir veröffentlichen Teile unserer Aufnahmen auf YouTube, wo die Kantatenteile millionenfach angeklickt werden. Auf Facebook unterhalten wir einen Bachkanal mit rund 300’000 „Freunden“. Die wichtigsten Kunden kommen aus Mexiko, Brasilien und Kalifornien. Unsere Produktion veröffentlichen wir über ein eigenes Streaming-Portal mit minimaler Bezahlschranke. Man kann sich dort nunmehr über hundert Bachkantaten samt Workshops und Reflexionen anschauen und anhören. Entfernte Fans irgendwo im Netz haben mit der Übersetzung der Inhalte ins Englische begonnen, freiwillig und gratis.
Just als Folge dieser Beliebtheit in aller Welt und des spürbaren Drucks, „unseren“ Bach real und authentisch hier und dort und möglichst hautnah erleben zu wollen, kommt nun eine nächste, schwierige Herausforderung auf mein Leben mit Bach zu. Der Deutschlandfunk lud uns 2017 für eine seiner Reformationsmanifestationen, man stelle sich das einmal vor, auf die Wartburg ein, um uns von da aus weltweit auszustrahlen. Wir stehen an einem Wendepunkt: Mein Schweizer Bach wäre in der Lage, einen zweiten, grösseren Bach zu nähren. Einen Europa-Bach sozusagen, einen Strom vielleicht. Dank der unablässigen Speisung aus der allmonatlich sprudelnden Kantatenquelle von Trogen wäre es möglich, Dirigent, Chor und Orchester auf internationaler Ebene zu platzieren. Das müsste nicht einmal nur Bach betreffen; mit gefüllten Sälen im KKL, der Genfer Victoria Hall und der Tonhalle Zürich für Aufführungen von Händels Solomon, Mozarts Idomeneo und Beethovens Neunter bewies der Klangkörper bereits, dass seine konsequente Ausrichtung auf Transparenz und präzises historisches Verständnis nicht bei Bach enden muss. Ganz im Gegenteil: Die Erkenntnisse vom Umgang mit dem komplexen Thomaskantor öffnen die Augen für unerkannte Subtilitäten bei anderen Komponisten.
Ein zweiter Traum könnte also Wirklichkeit werden: Ein einzigartiges Schweizer Kulturprojekt mit internationaler Ausstrahlungskraft, die jener eines Philip Herreweghe, eines John Eliott Gardiner oder eines Ton Kopman und ihren Ensembles kaum nachsteht, sondern diesen grossen Interpreten eine eigenwillige, zusätzliche Sichtweise auf Bach und andere Komponisten zur Seite stellt. Von diesem zweiten Traum müssten andere, Dritte gepackt werden. Ansonsten ist Selbstbeschränkung angezeigt, aber gleichzeitig alles daranzusetzen, das Momentum und sich bietende Gelegenheiten nicht zu verpassen. Der Unternehmer in mir strebt wieder einmal nach Multiplikation. Wird sie Wirklichkeit werden? Vielleicht. Und sonst bleibt’s halt dabei. Trogen liegt an der Goldach. Tönt beinahe wie Goldberg. Ein Leben mit Bach müsste auch damit zufrieden sein. Es ist schon so traumhaft schön.
NZZ vom 8.3.2018, Bachs Kantaten sind Trost und Donner zugleich