„Nochmal losziehen, mit Sack und Pack, ohne genaue Kenntnis, wo man übernachten wird, mit einem kleinen Zelt – so wie früher!“ Der zunächst geheime Wunsch wurde irgendwann Programm. Diesen Sommer? Zuwarten wäre falsch. Wohin, mit wem? Irgendwo in die Berge, am besten mit dem bewährten Bergkameraden, der überall mitkommt beziehungsweise mich überall mitnimmt. Zu Fuss, mit Skis und Fellen, mit dem Bike, je nach Jahreszeit und Wetterlage. Unsere Bergtermine sind im Kalender fix eingetragen, das ist der Preis einer mandatsgesteuerten Agenda, und deshalb sind wir in jeder Hinsicht allwettertauglich. Einmal erwischte uns das Sturmtief Kyrill, und die Bikes blieben im Morast rasch aufgetauten Januarbodens stecken. Ja, ein bewährtes Duo – aber biwakiert haben wir seit der Pfadfinderzeit nicht mehr.
Einen Zweck sollte eine solche Expedition aber doch irgendwie haben. Die Zeiten sind vorbei, da uns der mutmassliche Gegner Rot die besten Begründungen für Übungen mit exzentrischen Campiergelegenheiten bot, etwa nördlich von Affeltrangen im Lauchetal oder mitten im Grossen Moos. Anstatt Landesverteidigung Exploration: Etwas erkunden, was nur wenige Leute kennen, weil es von jeder Zivilisation zu weit entfernt ist, und wo man nur hingelangt, wenn man dort übernachtet. Das allerdings gibt es in der Schweiz kaum. Überall hat’s Bergbahnen, Passtrassen mit Postautos, SAC-Hütten, bewirtete Alpen. Langes und systematisches Kartenstudium brachte uns auf die Gegend zwischen dem Averstal, der italienischen Grenze und dem Bergell: Bergalga. Welch’ klingender Name! Entsprechend erhaben muss wohl auch die Gegend sein! Einschlägige Bilder im Internet vermieden wir, denn wir wollten den ernsthaften Zweck unserer Erkundung keinesfalls konterkarieren. Die Karte 1:25’000 belebte eher Phantasie und Vorahnung dessen, was dann zu sehen wäre, als dass sie ein definitives Bild vermittelte – Bergalga als eine sehr weite Passlandschaft mit vielen kleinen Seen, glazial geformten Rücken, riesigen Steinblöcken, für alpine Verhältnisse hoch, sehr hoch gelegen, nämlich auf beinahe 3’000 Metern über Meereshöhe. Dort nochmal biwakieren gehen, so wie früher – keine langweilige Vorstellung!
Nochmal: ein Zauberwort für Männer in meinem Lebensalter. Manche treiben es soweit, dass sie sich eine junge Frau anlachen und mit ihr ein Kind zeugen. Andere bauen nochmal ein Haus, nehmen sich nochmal einen Golflehrer, diesmal einen privaten, noch andere beginnen zu singen. Nochmal biwakieren – dieses Aufbäumen gegen das Älterwerden erscheint vergleichsweise bescheiden. Aber ist es vielleicht auch ein wenig lächerlich? Sicherheitshalber bat ich meine Frau mitzukommen, um im einschlägigen Zürcher Outdoor-Paradies über das geeignete Zelt, den Schlafsack, das Mätteli zu reden. Die Leute könnten ja denken… Sofort wurde ich aber Teil einer Community, die sich duzt und zu der man definitiv gehört, nachdem man sich für ein paar tausend Franken mit einschlägigem Material eingedeckt hat. Leichter geworden sind die Sachen schon, wenn man an den Armeerucksack, die Wolldecken und die Blachen samt Stangen- und Heringtaschen zurückdenkt. Die moderne Technik und das Gefühl, zu einer ganz lässigen jugendlichen Gemeinschaft zu gehören, liess letzte Hemmungen vor dem Abenteuer vergessen.
Mitte Juli 2018 war es dann soweit. Das Postauto von Andeer nach Juf entliess zwei (trotz High-Tech) schwerbepackte Männer in Cröt (Avers) zum Einstieg ins Val Madris. Ein langes, sehr langes Tal. Bis fast zuhinterst ist das Fahrsträsschen geteert, weil es eine Wasserfassung für den Lago di Lei gibt. Aber es ist breit und grosszügig. Nochmal: Das Zauberwort wurde unter dem Druck des Rucksacks und des unabsehbaren Wegs langsam zur Obsession. Nochmal die Namen der Bergblumen hervorholen? Grossvater hatte sie uns beigebracht. Vor sechzig Jahren. Mutter repetierte sie mit uns. Vor fünfzig Jahren. Bachnelkenwurz, akeleiblättrige Wiesenraute, Männertreu, Türkenbund, Skabiosa – je länger man geht, desto besser funktioniert das Gedächtnis. Nochmal, nochmal, nochmal: Bedächtiger Trott und Erinnerungsfetzen an berggängige Vorfahren füllten mein Val Madris.
Doch dann lässt der lange Anmarsch bis zum echten Anstieg, Bergblumen hin oder her, aus dem Nochmal die bange Frage aufkommen: noch einMal? Also eigentlich zum letzten Mal? Die Riemen drücken auf die Schultern, der Durst quält, der Magen knurrt; noch ist man sich, trotz allem, zu fremd, um körperliche Befindlichkeiten auszutauschen. War es fahrlässig, zu diesem „Nochmal-biwakieren“ anzusetzen? Wir hätten es ja wissen müssen: Solcherart Unternehmungen werden bald einmal vorbei sein. Wer Nochmal meint, landet unweigerlich beim Noch-ein-Mal, bei seiner Vergänglichkeit.
Nach der Alp Sovräna, der Name gefällt mir, wird der Pfad steiler, die Stufen werden höher und unregelmässig. Noch ein Mal, noch ein Mal, noch ein Mal – Mensch, sieh es ein, und lass künftig solche Aventüren sein! Bei jeder richtigen Bergtour gibt es einen stimmungsmässigen Tiefpunkt. Hier ereilt er mich bei etwa 2’300 Metern über Meer. Die weiss-rot-weissen Markierungen werden immer spärlicher und blasser, der Weg verliert sich in kaum sichtbaren Spuren, weit und breit scheinen wir die einzigen zu sein. Die Umgebung weiss nicht so recht, ob sie Weide oder Einöde sein soll. Der Himmel dunkelt ein. Da ertönt plötzlich Gelächter und fröhliches Gequatsche von oben! Eine Gruppe junger Frauen, Stadtzürcherinnen, wie wir später erfahren, kommt uns aus der Steinwüste entgegen. Ohne Leiterin oder Lehrerin, einfach so. Vor vier Tagen in Preda im Albulatal gestartet, überquerten sie, von Alphütte zu Alphütte wechselnd, den Alpenkamm mehrmals. Morgen werde die Bergwanderwoche in Soglio ihren Abschluss finden. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Schülerinnen – es handelte sich um den Zusammenzug Freiwilliger aus mehreren Klassen – ihre Route und die zweifelsohne bestandenen Mühen schildern, frappiert. Später bemerke ich zu meinem Begleiter: „Da brauchen wir uns keine Sorgen für die Zukunft zu machen, es geht weiter.“ Noch einMal – Unsinn! Du selber verschwindest zwar einmal, aber „es“ geht weiter, es ist ein Kontinuum.
Nun geht es behender nach oben; die Gegend wird zwar unwirtlich-steiniger, aber auch immer weniger steil, bis wir die Dreifach-Passhöhe Bergalga erreichen und auf knapp 3’000 Metern über Meer unser Zelt aufstellen. Mit sicheren Handgriffen, als hätten wir es gerade gestern noch gemacht, entsteht eine Unterkunft aus feinstem Gleitschirmstoff; vor uns liegt ein kleiner, graugrüner See. Küchendienst, ganz wie früher, ist angesagt. Risotto con funghi, leicht hinaufzutragen, ausser der an den strengen Augen der Hausfrau vorbeigeschmuggelte Weisswein, der auch noch zum Aperitiv reichen sollte. Und ausser dem Rotwein, den mein alter Kamerad mitgeschleppt hat. Unser Wohlbefinden ist gross, aber das Wetter verdüstert sich zusehends. Von den dräuenden Wolken reissen Nebelfetzen ab, um sich alsbald über die Passhöhe in die Tiefe zu stürzen. Später beginnt es zu regnen, und die Höhe macht sich durch beissende Kälte bemerkbar. Wer etwas nochmal will, der wird das eine oder andere déjà-vu erleben, so ist das halt. Ab in den Schlafsack, der Kopf ist vom Wein schwer genug, der Körper vom Aufstieg genug ermattet.
Doch dann das: Alles andere als ein déja-vu, das pure Gegenteil! Um drei Uhr in der Nacht werde ich geweckt. „Du musst aufstehen, Konrad!“ Der Imperativ lässt keine Wahl zu. Ein Bär, ein Wolf? Nein, ein Sternenhimmel, so klar, so ungestört wie noch nie! „Das sehe ich zum ersten Mal“, unterbreche ich viel später das staunende Schweigen. Erstmals die Milchstrasse richtig zu sehen, erstmals den grossen Wagen mit all seinen Ableitungen zu erkennen, erstmals den Polarstern auf Anhieb fixieren zu können, erstmals den Orion vor lauter Konkurrenten suchen zu müssen – wie reich kommt mir das Leben plötzlich vor! Zufälligerweise hatten wir für unser Bergabenteuer eine völlig mondlose Nacht gewählt; was Versiertere lange geplant und dann wegen Bewölkung vielleicht doch verpasst hätten, fällt uns in den Schoss, einfach so. Erstmals, erstmals, erstmals! Das Kontinuum, Einsicht des langen Aufstiegs, bietet dir, Mensch, immer wieder erstmalige Erlebnisse, so die neue Erkenntnis unter dem Sternenhimmel von Bergalga. Du brauchst nur die Augen offen zu halten. Jedes Bergblümchen ist in deiner jeweiligen Situation erstmalig. Jeder dir begegnende Mensch genauso. Es gibt kein Nochmal, jedes Mal ist letzt- und erstmals.
Als hätten diese Gedanken noch einer Bestätigung bedurft, empfängt uns drei Stunden später eine „heure bleue“ bisher ungekannter Schönheit. Der Piz Platta, die Bergeller Bergzacken und der mächtige Piz Duan wechseln von Dunkelviolett zu wärmendem Königsblau, bevor sie im Sonnenlicht ihre wirklichen Farben zu erkennen geben. Erstmals so gesehen.
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Beim Abstieg hinunter nach Soglio – es sind rund 2’000 Höhenmeter – kam dann und wann dennoch der Gedanke auf, dass es auch eine Gnade sein könnte, gewisse Dinge zum letzten Mal getan zu haben.
KH, 18.7.2018
NZZ-Artikel vom 2.8.2018 zu Bergalga