„Darf ich Sie um Ihre Bekanntschaft bitten? Ich habe noch selten jemanden so schön schlafen sehen.“ Der mir dies in der Eisenbahn sagte, musste es wissen. Er stellte sich als international anerkannter Schlafforscher mit leicht ungarischem Akzent vor. Ich hatte soeben das absolviert, was man heute als Power Nap bezeichnet, früher als ordinäres Nickerchen. Ein paar Wochen später hiess es, wiederum nach einer meiner vielen Zugfahrten, in einem Rapport der Zürcher Kantonspolizei: „Der Geschädigte wurde im Tiefschlaf beraubt.“ Sehr sorgsam hatte mir jemand nach gründlicher Leerung die Geldbörse zurück ins Jackett gesteckt.
Tagschlaf, die Kraftquelle für Vielbeschäftigte, steht in einem seltsamen Wechselverhältnis zur nächtlichen Schlaflosigkeit. Das ruhelose Hin- und Herwälzen in zu warmen Daunen, das Abkühlen zu heisser Arme und Beine, um sie nach kurzer Zeit unter der Decke wieder aufzuwärmen, die so verzweifelte wie nutzlose Bemühung, den pochenden Pulsschlag zu bändigen, der untaugliche Versuch, beängstigende Gedanken und Bilder zu verdrängen: Schlaflosigkeit gehört zum Leben dessen, der nicht im Schlaf des Selbstgerechten und Selbstzufriedenen sein Leben verpasst. Schlaflosigkeit ist die Prämie, die wir für eine aktive Lebensgestaltung zu bezahlen haben.
Prämie? Last? Bedrohung? Mehr und mehr glaube ich zu erkennen, dass der nächtlichen Unruhe ein eigener Wert zugeordnet werden kann. Gewiss, es ist gibt jene Nächte, in denen die Angst regiert und nach denen der Morgen eine Erlösung ist. Aber Schlaflosigkeit ist vielfältiger. Da gibt es zum Beispiel jenen Halbwachschlaf in Erwartung eines grossen Tages. Was der lendemain nach einer Liebesnacht, ist die „lendenuit“ als Antizipation entscheidender Ereignisse. Vor einer spannenden Reise, vor einem wichtigen Auftritt, einer zu schlagenden Schlacht. Fahr- und Flugpläne, Formulierungen, operative Absichten prägen sich, ja ätzen sich ins Gehirn ein, so dass am nächsten Tag alles in selbstverständlichem Automatismus abläuft, eventuelle Änderungen des Plans ohne weiteres aufgefangen werden können. Insomnia praeparanswäre diese Schlaflosigkeit zu nennen.
Oder jene stupende Erfahrung, dass „im Schlaf“ sich Probleme lösen lassen, an denen man tagsüber hoffnungslos herumlaboriert hatte. Zu Zeiten, als man noch mit Fortran, Cobol und Basicdie Computer programmierte, kamen mir die Algorithmen meistens nachts „in den Sinn“. Später entstand mancher Anlagekommentar, zu Teilen wenigstens, als Kopfgeburt in halbdurchwachten Nächten. Seufzer meiner Gattin um vier Uhr früh: „Bist Du wieder am Schreiben?“ Allerdings erweist sich dann nicht jede nächtliche Erleuchtung tagsüber als verwendbar. Und vieles geht in den trotz allem absolvierten Schlafphasen auch wieder verloren. Dennoch, nehme ich an, hat nächtliche Unruhe sehr viel mit kreativen Vorgängen zu tun, von denen wir glauben, dass wir sie tagsüber bei wachem Bewusstsein ausführen. Der unbewusste Nährboden wird nachts gelegt. Insomnia lucida, wie arm wären wir ohne sie!
Ja, ich meine, sogar das unruhige, zeitweise langanhaltende Hin- und Herwälzen könne seinen Wert und seinen tieferen Sinn haben. Es kommt auf die Einstellung an. So versuche man einmal, die vielen entstehenden und vorbeihuschenden Bilder als eine Art Kino zu erleben. Als von der Natur geschaffene, ungeheuer vielfältige Abfolge von ganz persönlichen Videoclips. Szenen aus ferner Vergangenheit vermischen sich mit Erinnerungen aus jüngerer Zeit, mit Szenarien und Vorstellungen über die Zukunft und mit vielen Personen und Örtlichkeiten, die uns um keinen Preis aus dem Sinn entwischen wollen. Prioritäten gibt es keine, Gedanken zu verdrängen funktioniert nicht. Die berühmten Schäfchen, die man zählen sollte, taugen wenig, denn bald einmal werden sie zu wilden Sprungböcken und werden zusammen mit allen anderen Videoclips immer aufs neue gehörig durcheinander gewirbelt. Man weiss: Dank Tagesanbruch wird das Kinoprogramm auch wieder einmal sein Ende haben. Und weil man das weiss, schläft man freundlicherweise gegen Morgen sogar nochmals ein. Und dann – ist man ausgeruhter denn je! Alles Ungeordnete wurde wie durch Zauberhand zentrifugiert, die Prioritäten erscheinen plötzlich gesetzt. Insomnia perturbans et ordinans.Voraussetzung, dass sie funktioniert, sind allerdings wollene Bettsocken. Denn in der Kinophase verbraucht der Kopf dermassen viel Energie, dass die Füsse erkalten. Und mit kalten Füssen stellt sich kein Erholungsschlaf ein.
Kalte Füsse: Sie erinnern uns an Schlafes Bruder, den Tod. Das Memento morigehört zur Schlaflosigkeit. Die Akzeptanz, dass es jenen Bruder gibt und dass wir ihm unausweichlich entgegengehen, hilft uns, Schlafes unruhiges Schwesterchen, die Schlaflosigkeit, freudig und dankbar zu begrüssen. Wenn sie uns nächstens nächtens wieder einmal heimsucht.
NZZ vom 5.1.2013_Schlafes unruhige Schwester