Appenzeller im eigentlichen Sinne bin ich nicht. Nur Zugewanderter, Wahl-Appenzeller also. Auf der Suche nach einem Zuhause für eine junge Familie, abseits des St. Gallischen, wo es als Privatbankier auf Distanz zu leben galt zu den Kunden und wo immer noch der lange politische Schatten meines Vaters lag, wurden meine Frau und ich zunächst in Speicher wohnhaft. Unsere zwei älteren Töchter gingen dort zur Schule, die dritte wurde dort 1991 geboren. Mitte der Neunziger Jahre konnten wir ein renovationsbedürftiges Wohnhaus – mit ehemaligem Fabrikli im Untergeschoss – in Teufen erwerben. In mehreren Phasen bauten wir es aus und um. Der sehr feinfühlige Schweizer Architekt Wolfgang Behles (Kinderzoo Rapperswil, Hotel Jungfrau-Victoria in Interlaken) half uns dabei, Wunschkubaturen und äusserliche Zurückhaltung miteinander zu kombinieren. Wir fühlen uns wohl und richtig zuhause an der Speicherstrasse in Teufen, unweit des Bahnhofs, in Sichtdistanz auf die Schule Landhaus und die belebten Sportanlagen, und allem voran – mit phantastischer Sicht auf den geliebten Alpstein. Wenn er nicht gerade wieder einmal wolkenverhangen ist.
Was macht unsere Affinität zum Appenzellerland aus? Land und Leute. Die grünen Hügel, die verstreuten Bauernhöfe, die oft schwarzweiss gefleckte Winterlandschaft, die Begrenzung des Horizonts im Süden durch das Säntismassiv. Es verändert jeden Tag sein Aussehen. Langweilig wird es hier nie. Wir lieben die vielen Bäche in tiefen Töblern, die steilen Pfade hinunter zu Holzbrücken und Stegen und dann wieder hinauf zu überraschend flachen Auen und Wiesengründen, wir lieben die Höhenzüge mit ihren Ausblicken in die fein gewellte Hügellandschaft des Untertoggenburgs, des Tannzapfenlandes und des Thurgaus. Und dann: diesen Blick auf den Bodensee hinunter und weit, weit ins Allgäu hinein. Früher vermutete man irgendwo dort hinten das Ende der westlichen Welt, den bedrohlichen Eisernen Vorhang. Heute ist die Aussicht über den Bodensee unsere persönliche Ostöffnung. In Richtung Prag, Kiew und Moskau.
Von dort kommen ja auch die wesentlichsten Impulse für das Appenzellerland und seine Leute. Slawische und zigeunerische Klänge machen die Appenzeller Volksmusik aus, jene so unglaublich andere, bessere Schweizer Volksmusik, jenseits des Hudigäggelers, meilenweit erhaben über die gestylte und geschniegelte SF-„Volksmusik“. Ich pflege als Geiger diese Musik in verschiedenen privaten Formationen. Wir treffen uns zu privaten Stobeten und lernen jedesmal wieder ein wenig dazu. Manchmal hilft uns Noldi Alder dabei, jener Urnäscher, dessen wache Augen aus einem hochintelligenten und auch immer weiseren Gesicht blitzen und der so verwurzelt wie weltoffen ist.
Leute: Das sind überdies die Lehrer an der Kantonsschule Trogen, die nun auch noch von unseren vierten Tochter absolviert wird. Ein gelungenes Biotop, diese Schule an der Trogener Nideren. Klein genug, um vorübergehende Heimat für die Schüler zu sein, selbstbewusst genug, um sich manchem pädagogischen Anpassungsbedarf Helvetiens zu verweigern. Ernsthaft genug, um umfassend humanistisch gebildete Gymnasiasten an die Universitäten zu schicken. Glückliche Schüler – was mehr können sich Eltern wünschen?
Leute: Das sind Nachbarn, Freunde und Bekannte in der näheren und weiteren Umgebung. Man kommt sich nie zu nahe. Aber dann und wann steht ein Glas selbstgemachte Gonfi oder ein Sonntagszopf vor der Türe. Nach den Ferien hat’s Blumen auf dem Tisch und einen Gugelhopf zur Begrüssung zuhause. Dann lässt man sich entsprechende Revanchen der Liebenswürdigkeit einfallen. Und am Silvestermorgen, etwa um 11 Uhr, trifft man sie alle, die Freunde und Bekannten, zum Neujahrsgruss auf dem Dorfplatz in Teufen. Das ist das beste Volksfest, das ich kenne. Von niemanden wirklich organisiert, total spontan, ohne richtigen Anfang und ohne Ende, ein herzhaftes Get-together (Zämächo), wie es ein Organisationskommittee nie zustande brächte.
Das ist „mein“ Appenzellerland, dem ich wünsche, genau so zu bleiben. Vor 16 Jahren beging die Kantonsregierung die Kalberei, die identitätsstiftende Landsgemeinde abzuschaffen. Mit technokratischen Argumenten vermochte sie das Volk (und vor allem die mittlerweile zuhauf zugewanderten Ignoranten appenzellischer Wesensart) von der Überlegenheit der Abstimmung an der Urne zu überzeugen. Das war falsch und ein beinahe letaler Dolchstoss in das Herz des ausserrhodischen Gemeinsinns und appenzellischer Ehrlichkeit. Denn dass einmal im Jahr, wenigstens einmal!, eine Regierung vor das mit Degen und Bajonetten bewehrte Volk stehen muss: Das ist mehr als nur Folklore. Die Landsgemeinde war gelebte, sichtbare, archaische Governance, die zum Ausdruck brachte, wer eigentlich wirklich das Sagen hat (oder haben sollte). Anstatt die Landsgemeinde abzuschaffen, hätte man deren symbolischen Wert besser in die vielen Demokratiedefizite dies- und jenseits der Schweizergrenze hinausgetragen!
Ich war selber überrascht, dass ich mich über diesen mutwilligen Verlust appenzellischer Qualitäten so entrüstete. War vielleicht doch irgendwann Appenzeller DNA in meinen Stammbaum geraten? Eine Nachprüfung des väterlichen und mütterlichen Stammbaums offenbarte es: Im neunzehnten Jahrhundert heiratete eine Anna Martha Zürcher von Teufen in die Lindauer Bürgermeisterfamilie Hummler hinein, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ehelichte mein Grossvater mütterlicherseits, der Emmentaler Alfred Stucki, eine Elisabeth Herzig aus Grub AR. Würde man, was ja durchaus nicht abwegig wäre, den Stammbaum entlang der weiblichen anstatt der männlichen Linie nachzeichnen, dann wäre ich waschechter Appenzeller mit migrationsbedingter Beimischung aus dem Bernbiet und dem nahegelegenen Schwabenland. Ich wäre also sozusagen ins Appenzellerland zurückgekehrt.
Irgendwie habe ich den Eindruck, dass es genau so ist.